Die Kirche, auf Felsen gebaut, ist selbst nicht Fels, sondern lebendiger Organismus. Es gibt in ihr ein Werden, ein Wachsen – wie ein Samen, der zu einem Baum wird. Sie geht mit der Geschichte, assimiliert die Epochen, befruchtet die Zeiten, geht nicht in sie auf, überdauert sie.
JOSEF ARQUER, MIT GROSSEN AUGEN, S. 159
Francisco F. Carvajal führt in einer seiner Betrachtungen in Meditationen für jeden Tag die Beziehung zwischen der sich im aufrechten Gang darstellenden Würde des Menschen und den Gebrochenen und gebückten Kranken aus. Sie können sich nicht aufrichten, zum Himmel und nach Vorne schauen. Wir finden es nicht ungewöhnlich, wenn wir von Leiden verkrümmt und geplagt sind, uns nicht aufrichten zu können. Wenn jemand seit vielen Jahren krank ist, wie kann er sich aufrichten, seine Gedrücktheit überwinden und zum Himmel schauen? Nur zu natürlich finden wir, dass der Blick eines solchen Menschen an der Erde haften bleibt. Erst durch die Gnade Gottes richtete sich die Frau auf, von der uns das Lukasevangelium erzählt (vgl. Lk 13,11-13). Die Kirche spricht von den übernatürlichen Gaben… eine von ihnen ist die Hoffnung (1Kor 13,13), durch die uns Gott aufrichtet, und uns glauben lässt, „im gleichen Augenblick richtete sie sich auf und pries Gott.“ (Lk 13,13) Als Jesus unter den Menschen lebte, vermittelte er die Gnade Gottes; die Menschen brachten “alle Kranken mit den verschiedensten Gebrechen und Leiden zu ihm, Besessene, Mondsüchtige und Gelähmte, und er heilte sie.” (Mt 4,24)
Dies vollzog sich nicht im theoretischen oder abstrakten Raum. Jesus heilte, indem er die Menschen berührte, ihnen die Hände auflegte, ganz physisch durch seinen Leib. Seinen Jüngern gab er die Vollmacht, dieses Werk fortzuführen (vgl. Mt 10,1). Sie bilden einen Leib (vgl. 1Kor 10,17), in den alle durch einen Geist in der Taufe aufgenommen wurden (vgl. 1 Kor 12,13). Es ist wichtig zu verstehen, dass die durch den heiligen Geist aufgebaute Kirche das Heilswerk Gottes bis zur Wiederkehr Christi fortführt, als sein Leib.
Bevor wir vom Wesen des Christentums sprechen, ist es daher wichtig, auf diesen Umstand der Kirche als „mystischer Leib Christi“ hinzuweisen, ein Begriff, der interessanterweise bis zum Mittelalter nur für die Eucharistie verwendet wurde. Jesus Christus wahrer Gott und wahrer Mensch, menschlich sichtbar, seine Gottheit abgelegt, im Verborgenen. So hat die Kirche eine sichtbare Seite, während das Wirken des Heiligen Geistes im Verborgenen geschieht und die sichtbare Kirche aufbaut, “die wir im Glaubensbekenntnis als die eine, heilige, katholische und apostolische bekennen.” (LG 8) Die Kirche ist von Gott gestiftet worden, um sein Heilswirken fortzuführen.
Die Kirche ist ihrem Ursprung nach eine göttliche Gesellschaft; ihrem Ziel und den dazu führenden Mitteln nach übernatürlich.
LEO XIII., ENZYKLIKA SATIS COGNITUM, AAS, 28, S. 710
Die Zusage an die Kirche, „die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen“ (Matthäus 16,18), stellt die Besonderheit heraus, die wir in keiner anderen Religion kennen. Gott hat den Menschen nicht die christliche Religion geschenkt, zum Beispiel in Form eines Buches, dessen Regeln wie in anderen Religionen befolgt werden müssten, um vor Gott bestehen können, der unerreichbar in den Sphären ewigen Lichts thront. Gott hat durch seine Menschwerdung in Christus und die Stiftung der Kirche den Menschen ein Heilssakrament hier auf Erden übergeben. Durch dieses Heilssakrament Kirche sollen die Menschen heilig werden. (vgl. 3 Mose 11,44; 1 Petr. 1,16) Die Kirche, das ist das Volk Gottes, die aus ihren natürlichen Kontexten Herausgerufenen, die durch Taufe und Glaube zu lebendigen (vgl. LG 14) Steinen geworden sind.
Das deutsche Wort »Kirche« ist aus dem Griechischen »kyriake« gebildet und bedeutet »dem Herrn gehörig«. Im Neuen Testament aber wird … ein anderes Wort gebraucht, das ebenfalls aus dem Griechischen stammt: »ecclesia«, das ist die »Versammlung« oder »versammelte Gemeinde«. Wörtlich heißt es »die Herausgerufenen«.
FERDINAND KRENZER, MORGEN WIRD MAN WIEDER GLAUBEN, S. 130
Sind wir Teil dieses mystischen Leibes, werden uns die Mächte der Unterwelt nicht überwältigen (vgl. Mt 16,18); im Leib Christi haben wir „das Siegel des verheißenen Heiligen Geistes empfangen“ (Eph 1,13), in ihm werden wir „aus allen Nationen und Stämmen, Völkern und Sprachen“ (Offb 7,9) gesammelt. Aus dieser Ausrichtung auf alle Menschen speist sich seit 2000 Jahren das Selbstverständnis der Kirche als die katholische. Sie ist eine allumfassende Kirche, denn Gott will, “dass alle Menschen gerettet werden.” (LG 16)
Katholisch ist… ein Attribut gegen die konfessionalistischen Engführungen dieser oder jener sich besser oder gar allein richtig dünkenden Christengemeinschaften. Es ist ein Attribut, das über die damalige wie heutige Christenheit hinaus auf alle Menschen zielt, denen die Kirche das umfassende Heilsangebot Gottes offerieren darf und soll. Und in dem Maße, wie die Kirche das allumfassende Heilsangebot Gottes in Wort und Tat präsent macht, in dem Maße wird sie selber mehr und mehr katholisch. Die Bezeichnung katholisch ist … nicht der Auftrag zur konfessionellen Horizonteinengung des Christlichen, sondern der Auftrag zur Erweiterung seines jeweils aktuellen Horizonts.
ULRICH LÜKE, DAS GLAUBENSBEKENNTNIS VOR DEN ANFRAGEN DER GEGENWART, S. 221
Das Wesen des Christentums ist die Kirche, und das Wesen der Kirche ist, von Christus gestiftet zu sein und als Leib Christi das Heilswerk Gottes fortzuführen. Christsein bedeutet, Jesus Christus zu folgen, und in dieser Nachfolge Teil seines Leibes zu werden, sich in ihm sammeln zu lassen: „Wer glaubt und sich taufen lässt, wird gerettet“ (Mk 16,16). Es ist unerheblich, welches Bekenntnis Du ablegst, welchen christlichen Prediger Du folgst, ob Du zu Paulus, Apollos oder Kephas gehörst. So fragt der Apostel Paulus, ob der Leib dann zerteilt ist? (vgl. 1Kor 1,12-13) Das Wesen des Christentums ist nicht eine spezifische Konfession. Das Wesen des Christentums ist der Leib Christi, die Kirche.